Angst darf nicht lähmen

Interview mit Silvia Federici

 

Die Schriften der bekannten feministischen Theoretikerin, politischen Philosophin und Aktivistin Silvia Federici prägen bis heute Generationen von Theoretiker*innen und Aktivist*innen. In ihrer Lecture am Theater Spektakel am Sa 26.8. wird sie das widerständige und kreative Potenzial von Körpern untersuchen und beschreiben, wie sie Ausgangspunkt für politisches Handeln werden können. Im vorliegenden Gespräch mit der Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin Fiona Jeffries verwebt Federici Reflexionen u.a. über das Aufwachsen im Schatten des Faschismus in Italien und über die Bedeutung der frühneuzeitlichen Hexenjagden für die zeitgenössische Sozial- und Wirtschaftsordnung zu einer feministischen Kritik an bestehenden Arbeits- und Reproduktionsverhältnissen.

 

 

Fiona Jeffries: Können Sie mir zu Anfang etwas über Ihren Hintergrund erzählen? Welche Bedeutung hat die politische Instrumentalisierung von Angst für Ihre Arbeit und Ihr Denken?

Silvia Federici: Ich wuchs als kleines Mädchen in Italien während des Zweiten Weltkriegs auf. Die damaligen Widerstandsbewegungen gegen Faschismus, Rassismus und Nationalsozialismus prägten mein Verständnis von Politik, vom Aufbau sozialer Bewegungen und von Solidarität. Bei all diesen Bewegungen war die Frage der Organisation, des Aufbaus von Netzwerken, sehr zentral. Die Kraft der Bewegung liess jeden Einzelnen seine Angst überwinden. Zusammen bildeten sie eine gemeinsame Identität, wurden Teil einer Geschichte, die grösser war als die jedes Einzelnen. Nur so wirkte die permanente Bedrohung des eigenen Lebens nicht so zersetzend oder lähmend, wie man vielleicht denken würde. In gewisser Hinsicht bedeutete sogar der Tod nicht das Ende der eigenen Geschichte, weil diese Menschen im Kampf gegen den Faschismus Teil eines kollektiven Selbst waren. Sie waren Teil eines Ganzen, das über das eigene, zeitlich begrenzte Leben hinausreichte und so selbst den Tod in seiner allgegenwärtigen Bedrohung erträglich werden liess. Sie kennen sicherlich diese eher rhetorischen Schlachtrufe, zum Beispiel: «Ihr könnt mich töten, aber der Kampf geht weiter.» Im Grunde haben diese Leitsätze eine sehr tiefe Bedeutung. Wenn man sich dem Widerstandskampf anschliesst, wird man Teil von etwas, das das eigene Leben weit überdauert. Man baut etwas für die Zukunft auf. Man identifiziert sich mit dem Schicksal der nächsten Generation. Und das gibt den Menschen Kraft. Am Ende schaffen sie es so, die Angst zu überwinden und die Zuversicht zu gewinnen, dass der eigene Tod nicht vergebens wäre. […]

Die Ängste der Menschen – all diese Ängste vor wirtschaftlichem Ruin oder sozialem Abstieg – als etwas Persönliches oder Privates darzustellen, scheint eine wirksame Strategie zu sein, damit sich der Einzelne letztlich einsam und hilflos fühlt.

Wer sich in den 40er Jahren im Widerstand gegen die italienischen Faschisten oder die Nazis befand, erlebte eine sehr starke gemeinsame Identifikation und Organisation. Der Unterschied zur Gegenwart liegt vielleicht darin, dass heute viel diffuser ist, mit was für einem Gegner man es eigentlich zu tun hat. Auch wie sich die Gemeinschaft der Widerständigen überhaupt zusammensetzt, ist unklarer geworden, schwieriger zu erkennen. Wer steht einem im Kampf gegen die vielen sozialen Ungerechtigkeiten unserer Welt zur Seite? Schwer zu sagen. Auf wen kann man sich wirklich verlassen?
Gründe für diese Situation gibt es viele. Aber ich finde es aufschlussreich, sich Gemeinschaften anzusehen, wie sie bis in die 40er­ und 50er Jahre existierten. Zu jener Zeit beschritten Menschen noch einen Grossteil ihres Lebenswegs gemeinsam, von Kind an. Man ging gemeinsam zur Schule, man kannte die Eltern und Geschwister der anderen. Man teilte viele Augenblicke im Leben. Man wusste, ob man sich vertrauen konnte, wer Freund oder Feind war – das ging aus den gemeinsamen Lebenserfahrungen hervor.  Heute  hingegen …, denken Sie mal an Orte wie New York. Man lernt Leute kennen, über deren Leben man rein gar nichts weiss. Man trifft sie vielleicht bei einer Versammlung oder Demonstration. Aber in einem tieferen Sinn sind sie oft vollkommene Fremde. Man weiss nicht, worauf man zählen kann. Diese Art eng verbundener Gemeinschaft, in der sich Menschen über ihre gemeinsame soziale Geschichte definieren, wird immer seltener. […]

Und heutzutage begegnet man politischer Unterdrückung auf so vielen verschiedenen Ebenen, dass es auch sehr viel schwieriger geworden ist, zu wissen, wem oder was man eigentlich entgegentritt.
Besonders in den USA hat sich eine Art Wissenschaft der Unterdrückung entwickelt; es wird Macht über die Leute erlangt, indem unterschieden wird: Gehörst du zu denjenigen, die erschossen werden, oder zu denen, denen das FBI einen Besuch abstattet und die eine Verwarnung erhalten, vielleicht ein paar Tage Gefängnis? Oder zu denjenigen, deren Telefone abgehört werden? Die Repressionsmittel sind vielfältig. Und das macht es so viel schwieriger, die Gefährlichkeit deines Gegenübers einzuschätzen.
Schauen wir noch einmal kurz auf das Italien der 40er Jahre und auf das Beispiel der Partisanen. Ich wähle dieses Beispiel, weil meine Heimatregion zu der Zeit ein Zentrum des Widerstands war und ich mit Geschichten über Partisanen aufgewachsen bin. Manche von ihnen waren fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Sie waren ständig in den Bergen unterwegs, um den Kontakt zwischen den verschiedenen Gruppen aufrechtzuerhalten. Sie waren noch so jung! Und sie wussten sehr genau: Falls die Faschisten – oder nach der Besetzung Italiens die Nazis – sie erwischten, würden sie nicht nur ermordet, sondern wahrscheinlich vorher auch noch gefoltert. Sie hatten eine ziemlich klare Vorstellung von den Machtverhältnissen, davon, wie ihre Chancen standen und was passieren würde, wenn sie gefasst würden. 
Weltweit sind die Linien vielerorts nach wie vor sehr klar gezogen, wissen die Menschen noch immer sehr konkret, was sie erwartet, wenn sie sich politisch engagieren, politisch kämpfen. Aber beispielsweise in den USA oder in Europa ist die Situation heute sehr viel diffuser, weil die Konfrontation nicht mehr so klar umrissen ist und die Repression sehr viel indirekter wirkt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Repression mehr gäbe. Sie kommt nur für unterschiedliche Gruppen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck: Für einen Immigranten, eine schwarze Frau oder einen schwarzen Jugendlichen, oder für einen Weissen aus der Mittelschicht sind die Erfahrungen grundlegend anders. […]

Widerstand aus dem Privaten heraus
 

Wenn ich noch einmal auf die Anfangsfrage zurückkommen darf: Ihr Denken, Schreiben und politisches Engagement zeichnen sich auch durch ein ausgeprägtes Verständnis der ganz privaten Dimension von Widerstand aus. Welche Aspekte Ihrer eigenen Geschichte haben Ihre besondere Betrachtungsweise, Ihre Art des Denkens und Handelns in der Welt beeinflusst?

Ach, so viele Dinge! Ich denke, dass für mich, wie für viele Menschen meiner Generation, der Zweite Weltkrieg der prägendste Einfluss war. Ich kam zwar erst 1942 zur Welt – im Jahr vor der Landung der Alliierten in Sizilien –, aber in meinem Leben war der Krieg allgegenwärtig. In meiner Familie und in meinem Umfeld war er ein zentrales Thema. Er kommunizierte mehrere Botschaften. An erster Stelle stand eine Botschaft über Politik, über Geschichte. Der Krieg bewirkte grundsätzliche Fragen, was ein politisches Leben eigentlich bedeutet. Er zeigte klar auf, dass es auf der Welt enorme Ungerechtigkeiten und Unterschiede gab, die wiederum verdeutlichten, wie wichtig Widerstand und Opfer sind – wie auch die Überzeugung, dass es nie wieder zu solchen Gräueltaten kommen darf. Unrecht und der Widerstand gegen Unrecht waren für mich somit schon sehr früh wesentliche, immer wiederkehrende Themen. In gewisser Weise wuchs ich also mit einer doppelten Botschaft auf: dass die Welt furchtbar gescheitert war und man in ihr nicht einfach ein glückliches, unbekümmertes Leben führen konnte – und gleichzeitig, dass man Widerstand leisten konnte und viele Menschen das auch taten. Also eine Welt, in der man sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen hatte. Davon abgesehen hegten die Leute natürlich ein enormes Misstrauen gegenüber Autoritäten und dem Staat. Die Erfahrung des Faschismus hatte gezeigt, dass man auf den Staat, die staatliche Gewalt nicht vertrauen durfte. In dieser Hinsicht hat der Krieg alle geprägt, die ich kannte.
Ein zweiter, eher indirekter Einfluss in meinem Leben war die antikoloniale Befreiungsbewegung. Als ich heranwuchs, war sie zwar nicht unmittelbar präsent – wir erfuhren davon in der Schule, von Erwachsenen und aus den Zeitungen –, aber trotzdem spürten auch wir, dass sich die Welt in Aufruhr, Bewegung, inmitten eines radikalen Wandels befand. Wir hatten das Gefühl, dass in unserer Welt auf keinen Fall bereits alles entschieden war. Meine Jugend war voll von Nachrichten über Umwälzungen in Kenia, Frankreich und Algerien.
Daneben hat es mich ganz wesentlich geprägt, dass ich in den 60er Jahren in die USA gehen und dort Erfahrungen in der Studentenbewegung und in der Frauenbewegung sammeln konnte. Durch die Frauenbewegung konnte ich mit einem Mal mein Unbehagen gegenüber der Welt benennen. Für viele der Fragen und Probleme, die ich in meinem eigenen Leben und meiner Umwelt wahrnahm, fand die Frauenbewegung einen Namen. Sie bedeutete für mich Politik ebenso wie Analyse. Durch sie konnte ich beispielsweise erst die Kleingeistigkeit meines Vaters oder meiner früheren Lehrer begreifen. Das war für mich ein Wendepunkt, der meinen Horizont unglaublich erweiterte.
Jeder einzelne dieser Einflüsse verdeutlichte mir andere Probleme und Chancen. Aber gemeinsam bestätigten sie mir alle, dass die Welt dabei war, sich zu verändern. Und ich habe in meinem Leben wirklich gigantische Veränderungen erlebt. Dinge, von denen ich niemals gedacht hätte, dass sie möglich sein würden – etwa wie anders Frauenleben heute sind, auch wenn man bei weitem noch nicht von einer Befreiung sprechen kann. Das Leben, das viele Frauen heute haben können, in welchem sie eine gewisse Kontrolle über ihr Muttersein, ihre Partnerschaft oder ihre Sexualität haben – das ist wirklich wunderbar. Niemals, niemals hätte ich mir vorstel­len können, dass das zu meinen Lebzeiten noch möglich sein würde. Noch unseren Müttern war ein solches Leben, ein gewisses Mass an Selbstbestimmtheit verwehrt. Weltweit betrachtet ist das für Frauen nach wie vor so. Aber die Anzahl von Frauen, die diese Erfahrung tatsächlich leben können, hat seit meiner Kindheit und Jugend zugenommen. Ich war eine frühe Feministin, und als ich ein Teenager war, wurde in meiner Familie die Stellung der Frau zum Streitthema. Mein Vater belächelte die Idee, dass Frauen als Busfahrerinnen arbeiten konnten. Wenn ich heute eine Busfahrerin sehe, kann ich im­mer noch kaum glauben, wie unfassbar engstirnig er damals war. Und dabei war er ein Intellektueller, ein Philosoph! Er ermutigte mich zwar, zu lesen, zu schreiben, über Politik zu diskutieren, aber war doch der festen Ansicht, dass der Platz der Frau im Haus war. Das war das Italien, in dem ich aufwuchs. […]

Frauen in Angst und Schrecken halten
 

Ich würde gerne zu einem der Hauptthemen Ihrer Arbeit und politischen Praxis kommen, der Geschichte der Hexenverfolgung. Sie haben eingehend beschrieben, weshalb die frauenfeindliche Gewalt der Hexenjagd politischer Natur war. Auch in der heutigen Ausbreitung des Kapitalismus erleben wir einen Anstieg extremer Gewalt gegen Frauen. Sie ist global, aber besonders konzentriert an Stätten intensiver kapitalistischer Ausbeutung, zum Beispiel in Ciudad Juárez in Mexiko oder in der Demokratischen Republik Kongo. Oft wird diese Gewalt zusammenhanglos rein kulturell erklärt – Sie aber üben politische Kritik daran. Was sagt uns die frühneuzeitliche Hexenverfolgung über die politische Natur geschlechtsspezifischer Gewalt?

Ja, es handelt sich unbedingt um politische Gewalt. Und leider gibt es in manchen Teilen der Welt auch heute wieder Hexenjagden. Diese Gewalt gegen Frauen ist politischer Natur, weil sie stets in Bezug auf die Funktionen oder Rollen verübt wird, die für Frauen vorgesehen sind. Gewalt ist ein entscheidendes Mittel, um diesen Rollen Nachdruck zu verleihen. Noch heute werden Frauen hauptsächlich Opfer männlicher Gewalt aufgrund von Fragen der Hausarbeit, der sexuellen Verfügbarkeit oder der generellen weiblichen Abhängigkeit vom Mann. Diese Art der Gewalt ist auch politisch, weil Männer sie immer haben ausüben dürfen und sie dadurch eine gewisse Legitimität erhielt, wenngleich es heute mehr Gesetze dagegen gibt.
Doch in der Geschichte des Kapitalismus wurde Gewalt gegen Frauen legitimiert, weil sie für die Regulierung von Frauenarbeit in gewisser Hinsicht massgeblich war. Frauen wurden so dazu gezwungen, auf eine bestimmte Art und Weise zu funktionieren und eine bestimmte Art von Arbeit zu leisten, gerade weil diese unbezahlt ist. Je seltener Männer in diesem Kräfteverhältnis auf einen monetären Lohn zurückgreifen konnten, auf ein Entgelt für die Arbeit der Frau, umso häufiger wendeten sie Gewalt an. Auch Vergewaltigung lässt sich so verstehen: als eine Form von Gewalt, die Frauen dazu zwingt, sexuelle Leistungen zu erbringen, ohne dafür bezahlt zu werden. Diese Gewalt ist politischer Natur, weil sie vom Staat stillschweigend gebilligt und als legitim wahrgenommen worden ist und sie zur ge­schlechtsbasierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung gehört hat, also kostenlose Leistungen für Männer im Austausch für wirtschaftliche Sicherheit. Gewalt ist der Mechanismus, der sichergestellt hat, dass dieses Verhältnis funktioniert.

Warum tritt Ihrer Meinung nach diese Art der Gewalt mancherorts wieder vermehrt auf? Bei gewaltsamen frauen­feindlichen Mustern wird heute oft der Begriff Femizid oder ge­schlechtsspezifischer Mord verwendet. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Ja, ich denke, dass im Laufe der letzten zwanzig Jahre die Gewalt gegen Frauen eine neue Dimension erreicht hat. Je­denfalls ist in den letzten Jahren Gewalt gegen Frauen nicht nur quantitativ eskaliert, wenngleich nachweislich auch einfach mehr Gewalt gegen Frauen verübt worden ist. Und ich denke, dass es mehrere Gründe gibt, warum diese Gewalt in den letzten Jahrzehnten derart zugenommen hat. Zum einen haben sich in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Frauen der Weisung widersetzt, sie müssten für Männer kostenlose Leistungen erbringen. Frauen haben sich zunehmend gegen ihre Abhängigkeit von Männern gewehrt, indem sie ihre Bereiche der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit erweitert haben. Nimmst du eine Arbeitsstelle ausserhalb des Heims an, leistest du auch weniger Hausarbeit. Dann entscheidest du dich noch gegen das Heiraten. Du gehst nur vorübergehende Beziehungen mit Männern ein, ziehst ein Kind alleine auf, pflegst Beziehungen zu anderen Frauen. Die emotionale Bindung von Frauen an Männer und Hausarbeit hat stark abgenommen. Und das ist zu einer Quelle ungeheurer Wut geworden. Eine weitere Dimension ist natürlich die männliche Angst, mit Frauen um Arbeitsplätze konkurrieren zu müssen, denn Frauen erhalten schliesslich niedrigere Löhne. Aber im Wesentlichen spüren Männer, dass Frauen sich ihrer Kontrolle entziehen.
Ich denke, dass dieser Gewalt noch ein weiterer wichtiger Aspekt innewohnt. Man kann sie nämlich auch als eine Reaktion auf neoliberale Strukturanpassungen verstehen. Seit dreissig Jahren findet weltweit ein wirtschaftlicher Angriff auf den männlichen Lohn statt; das Kapital greift die Existenzsicherung der Menschen an. Als Reaktion hierauf wird nicht nur die Arbeit von Frauen, sondern auch ihr Körper als Tauschmittel eingesetzt, sodass ein Mann, der kein Einkommen hat, auch keine Familie gründen kann. Dass nicht nur Frauenarbeit, sondern auch der Frauenkörper als Tauschmittel ein­gesetzt wird, zeigt sich beispielsweise in den unterschiedlichen For­men der Prostitution, die in diesem Kontext entstanden sind und die ein ganz eigenes Ausmass an Gewalt mit sich bringen. Es handelt sich um eine Erweiterung der Gewalt, die Männer früher anwendeten, um Frauen zur Hausarbeit zu zwingen. […]

Ich denke, dass die Gewalt gegen Frauen von zwei grundlegen­den Motiven angetrieben wird. Beide hängen eng zusammen, und je nach Kontext dominiert entweder das eine oder das andere. Zum einen werden Leben, Arbeit und Körper von Frauen im Kapitalismus entwertet. Die Funktion dieser Entwertung liegt darin, dass für Frauen die Rolle der unbezahlten Arbeiterin vorgesehen ist. Zweitens müssen Frauen zu bestimmten Arbeiten gezwungen werden. Die Frage dreht sich demnach um die Arbeitsleistung, die von Frauen erwartet wird, und um den geringen Wert, der dieser Arbeit wie auch Frauenleben an sich beigemessen wird. Ich denke, dass Ge­walt gegen Frauen politisch ist, weil sie grundlegend umkämpft worden ist und der Staat dazu gezwungen wurde, sein Verhältnis gegenüber Frauen zu ändern. Die Frauenbewegung hat diese Veränderung durchgesetzt, wodurch neue Gesetze eingeführt wurden. Die ganze Kampagne der Vereinten Nationen für Frauenrechte ist ein Beispiel dafür. […]

Soziale Spaltungen
 

Ich las Ihr Buch «Caliban und die Hexe» mit einer Gruppe von Feministinnen: Ein Argument, das uns besonders beschäftigte, war, dass die europäische Hexenverfolgung soziale Spaltungen vorantrieb und vertiefte, ob zwischen Frauen und Männern oder zwischen Kindern und Erwachsenen. Es ist erstaunlich, wie es immer wieder zu neuen gesellschaftlichen Spaltungen kommt, als würden wir sie geradezu fortlaufend neu erfinden. Aber wir zogen eine wichtige politische Lektion aus dem Buch, nämlich dass das scheinbare Unvermögen sozialer Bewegungen, gesellschaftliche Gräben zu überbrücken, im Grunde einen historischen Prozess nachzeichnet.

Ja, und dieser Prozess begann zur Zeit der Hexenverfolgung, war aber damit nicht beendet. Während dieser Epoche traten neue Sozialregeln in Kraft, die die gesellschaftliche Fragmentierung enorm antrieben, wie auch später noch einmal im 18. und 19. Jahrhundert. Zu jedem dieser Zeitpunkte gab es einen Schub in Richtung einer neuen Art von Weiblichkeit, einer neuen Art von Männlichkeit und neu geschaffenen Unterschieden zwischen Frau und Mann. Natürlich ist soziale Spaltung ein Prozess, der sich an den jeweiligen Kontext anpasst. In Europa findet sie zum Beispiel auf andere Weise statt als in Mexiko, weil sich auch die Formen der Arbeit und Ausbeutung unterscheiden. Betrachtet man die Kampagnen der Hexenjagden, die Verände­rungen im damaligen Strafrecht oder in der Massen­- und Hochkultur, wird einem klar, wie grundlegend sich der soziale Blick auf Frauen und Männer zu dieser Zeit wandelte. Die damaligen Gesetze und populären Darstellungen von Frauen und Männern schufen die Grundlage für spätere Ächtungen von geschlechterspezifischem Fehlverhalten, da sie auch die entsprechenden Strafen vorsahen. Ehemals massentaugliches Sozialverhalten wurde unter Strafe gestellt. Ich denke, dieser Punkt ist mir in meiner Geschichte der Hexenverfolgung am wichtigsten: Es handelte sich um eine Massenkriminalisierung von sehr verbreitetem, populärem Sozialverhalten.

Welche Arten von Verhalten?

Beispielsweise sexuelles. Wie Frauen bis dahin Kontrolle über Geburten hatten. Oder etwa die Volksheilkunde. Insgesamt findet sich in dieser Zeit eine ganze Reihe von Gesetzen, die die Trennung von Frauen und Männern verschärften. Es bildeten sich zwei sehr unterschiedliche Sphären heraus. Mit meinem Buch wollte ich zeigen, dass die so erzeugten sozialen Trennungen eine bestimmte Art von Hierarchie festigten, die hauptsächlich auf sozio­ökonomischen und politischen Mitteln basierte. Grundlage dafür war, dass sich das Verhältnis von Frauen und Männern zum Kapital massgeblich wandelte. Anders gesagt liegt die eigentliche Ursache für alle späteren Unterschiede in Identität, Verhalten und Konventionen darin, wie sich damals das jeweilige Verhältnis von Frauen und Männern zu Lebensunterhalt, Kapital und Staat änderte. In dieser Entwicklung wurde Frauen zunehmend ausschliesslich der Bereich der unbezahlten Arbeit zugewiesen. Sie wurden gar nicht erst als vollwertige Arbeiterinnen betrachtet und somit auf Tätigkeiten beschränkt, die ihnen kein eigenes Auskommen garantierten. Selbst wenn sie ausserhalb des eigenen Heims arbeiteten, am untersten Ende des Arbeitsmarkts, sicherte ihnen das kein eigenständiges Überleben. Diese Trennung, die sich mit der Zeit immer stärker ausprägte, fand ihren Höhepunkt im Aufstieg der Kernfamilie im 19. Jahrhundert. Der Mann arbeitete nun für einen Lohn, während die Frau unbezahlte Arbeit leistete. Auf diesem materiellen Fundament gründen alle weiteren Unterschiede, Hierarchien und Machtverhältnisse. So entschied fortan der Mann über die Sexualität der Frau. Natürlich findet so etwas nie ohne Kampf statt. Eine komplett einseitige Situation, wo Kraft nur in eine Richtung fliesst, gibt es nicht. Aber trotzdem, innerhalb des Proletariats lag die Macht nun ausschliesslich beim Mann – auch die Macht über den weiblichen Körper, die Macht, eine Frau zu ruinieren, indem man sie als Schlampe bezeich­nete, als Prostituierte oder als sexuell freizügig.
Diese Veränderungen führten zu einem radikalen Kulturwandel. Die gesamte kulturelle Wahrnehmung von Frauen und Männern wurde nun durch ein Frauenbild der reinen Passivität geprägt, mit allen dazugehörigen Eigenschaften: Fügsamkeit, Stille, Gehorsam. Das mittelalterliche Bild der Frau wurde in sein Gegenteil verkehrt; bis dahin hatten Frauen als gewalttätiger oder sogar als sexu­ell unersättlich gegolten. Die Zeit der Hexenverfolgungen hinterliess ein Frauenbild, das sich für ihre Unterordnung als sehr zweckdienlich erwies. […]

Wie können sich neue Vorstellungen wie die Hierarchien zwischen Mann und Frau, Erwachsenen und Kindern so weit durchsetzen, dass sie schliesslich ganz natürlich und unveränderlich erscheinen – obgleich diese Hierarchien genau betrachtet doch kontinuierlich herausgefordert werden?

Ich denke, sie etablieren sich durch eine fortlaufende Wechselwirkung zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Kulturellen, dem Wirtschaftlichen und dem Sozialen. Wenn Menschen wirtschaftlich immer abhängiger werden, verlieren sie an Boden. Dann müssen sie das Verhältnis und die Regeln, die damit einhergehen, neu verhandeln.

Aber paradoxerweise zeigen diese Geschichten auch, wie lange diese Hierarchien, Ideen und Praktiken brauchten, um sich zu etablieren. Hier wird deutlich, wie viel Gewalt dem zugrunde liegt, was wir heute als normale Verhaltensweisen und soziale Organisationsformen wahrnehmen.

Ja, wie lange der Widerstand gegen diese Gewalt schon besteht! Menschen können eben nicht aus rigiden kulturellen Formen heraus leben. Kultur befindet sich andauernd im Wandel, und auch der Widerstand hat sich verändert; er ist nach wie vor da. In meinem Buch habe ich das zu Teilen dokumentiert. Ich habe mich mit peruanischen Frauen befasst, die den Widerstand gegen die spa­nischen Kolonisatoren, die ja auch die Hexenverfolgung ins Land gebracht hatten, im Verborgenen weiterführten. Diese Frauen flüchteten in die Berge, wo sie autonome Gemeinden gründeten. An manchen­ Orten existieren diese Gemeinden nach wie vor, trotz der Unerbittlichkeit, mit der die Kolonisatoren sie zerstören wollten. Sie schafften es nie und bekämpfen sie noch heute. […] 
 

Credits

Dies ist eine gekürzte Fassung eines Interviews, das ursprünglich in «Wir haben nichts zu verlieren außer unsere Angst» von Fiona Jeffries erschien. (Zürich: Rotpunktverlag, 2019). Das Interview wurde mit Genehmigung des Rotpunktverlags veröffentlicht.

Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Wolf.